Die Gräben überwinden

Feiertagskolumne Pfingsten 2021

Am 19. März 2021, pünktlich zum Gedenktag des Hl Josef, wurden in Chur ein neuer Bischof geweiht. Die meisten Zeitungen haben mit aussergewöhnlicher Euphorie davon berichtet. Und es war schön, dass ein kirchliches Ereignis mit so vielen hoffnungsvollen Worten begleitet wurde. Denn, das Bistum Chur (und nicht nur dieses) ist tief gespalten. Progressive und konservative Gruppierungen aller Couleur stehen sich gegenüber und gewähren sich zum Teil nicht einmal die blosse Anerkennung.

Die Kirche hat es geschafft, sich in Gruppierungen aufzuteilen, die untereinander verstritten sind und sich nur noch um Abgrenzung bemühen. Und Abgrenzung führt immer zu Verschlossenheit und damit zum Stillstand. Die Kirche hat sich selbst in die Unglaubwürdigkeit und Bedeutungslosigkeit manövriert.

Bischof Joseph von Chur (und nicht nur er) muss nun versuchen, diesen Graben zu füllen. Durch personelle Veränderungen alleine lässt sich der Graben nicht füllen. Es braucht eine grundsätzliche Änderung der kirchlichen Haltung. Die Worte der Schrift dürfen niemals als Grund für Abgrenzung oder Bevormundung oder geistige Ummauerung missbraucht werden. Sondern sind immer Wegweiser zum Frieden und zur Erkenntnis Gottes. Denn die überlieferten Weisheiten sind reine Lebenshilfe, wie der Mensch einen erfüllten Lebensweg vor Gott gehen kann. Und eben diese Weisheit, diese Botschaft, soll die Kirche weitergeben und in das jetzt aktuelle Leben hinein übersetzen. Die Kirche – und zwar jede einzelne Pfarrei – muss wieder ein Ort sein, in der der Heilige Geist wirkt und nicht der Geist der Vergangenheit.

Bischof Bonnemain sagte bei seiner Bischofsweihe: «Jede Pfarrei sollte vermehrt eine Geh-hin-Kirche werden: Da hingehen, wo die Kranken, Leidenden, die Einsamen, Suchenden, Entmutigten, die Randständigen, Ausgegrenzten und Armen sind.»

Die «Geh-Hin-Kirche» findet ja nun als Spezialseelsorge bereits ganz konkret statt: z.B. in der Spitalseelsorge oder in der Gefängnisseelsorge oder in vielen anderen Kategorialseelsorgen. Aber – muss ich nun ernsthaft erst inhaftiert werden, bevor sich ein Pfarrer für mich interessiert?

Es gibt doch in jedem Dorf Menschen, die in irgendwelchen Zwängen gefangen sind. Oder Menschen, die in Einsamkeit versinken. Solche, die sich unverstanden fühlen und die mit dem Leben hadern. Die existenzielle Ängste durchleiden. Es gibt die Suchenden, die auf ihrem Glaubensweg nur noch Zweifeln begegnen und es gibt Sie, liebe Leser/innen und es gibt mich und alle anderen.

Die Kirche in ihrer ganzen Vielfalt soll eine «geh-hin-Kirche» sein. Egal, ob für linke oder rechte, konservative oder progressive Gruppierungen: Der Massstab allen Redens und Handelns ist der Dienst am Anderen in jeder noch so kleinen Form. Verbunden mit der Frage: «wem dient es? Und bringt es uns näher zu Gott?» Eine Kirche, die es sich leistet, dass ihre Gruppierungen sich verschanzen und selbst intern Dialoge verweigert, verbaut sich selbst alle Türen.

Eine «Geh hin»-Kirche aber trägt die Botschaft Jesu so in die Welt, dass sie auch dort ankommt, wo sie gebraucht wird. Die Kirche soll eine Botschaft verkünden, die dem Hörenden wirklich im Leben helfen kann. Die Kirche soll eine gesellschaftlich wahrnehmbare Haltung einnehmen, in der Gott hörbar wird – und sie soll für das Richtige eintreten und geradestehen. Die Kirche soll die Nische der Belanglosigkeit verlassen, den folkloristischen Mantel abwerfen und den nach Sinn Suchenden eine geistige Heimat bieten. Die Kirche soll eine Sprache sprechen, die auch verstanden wird und neugierig macht. Eine Kirche, die spannend ist, weil sie einen Glauben lebt, der Kraft hat.

Wir brauchen heute mehr denn je genau diese Kirche, die Gottes Segen für jeden anbietet, der den Segen nötig hat. Mehr denn je braucht unsere Gesellschaft die Kirche, in der der Heilige Geist wirkt und nicht mehr der Geist der Vergangenheit. Mehr denn je brauchen wir eine Kirche, die nicht nur der Folklore dient, sondern die hilft, Gott und Welt zu verbinden – und den spirituellen Hunger der Menschen zu stillen.

Mehr denn je braucht die Kirche ihre Mitglieder – wie Sie und mich. Wir brauchen Menschen in und ausserhalb der Kirche, die die Gräben überwinden und dazu beitragen, dass durch den Geist der Pfingsten unsere Wunden geheilt und der Frieden gestärkt werde. In diesem Sinne belebe und ermutige uns alle dieser göttliche und pfingstliche Geist – und es stärke und begleite uns der Segen des allmächtigen Gottes.